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Allgemeine Vorbemerkungen - Die Vinschgerbahn
23.10.2006
Während vieler Jahrhunderte war Tirol ein prosperierendes Durchgangsland für die Verbindungen aus dem Norden in den Süden Europas. Als die ersten Eisenbahnstrecken gebaut wurden, rückten die wichtigsten Verkehrsachsen von den kürzesten Linien ab. Tirol, insbesondere Südtirol, geriet verkehrstechnisch ins Hintertreffen. Erst mit der Eröffnung der Brennerbahn 1867 änderte sich die Situation grundlegend. Die Lombardei ging 1857 der k.k. Monarchie verloren und mit dem Verlust Venetiens 1866 wurde eine Ost-West-Verbindung dringend erforderlich. Diese wurde 1871 mit der Pustertalbahn realisiert und Südtirol über Franzensfeste mit Wien über Lienz verbunden.

Dies war innerhalb des sich entwickelnden europäischen Ferneisenbahnnetzes jedoch nur eine Teillösung. Für den schwer zugänglichen Alpenraum mit seiner schwachen Agrarstruktur und seiner - wegen der schwierigen Transportwege - ungünstigen Möglichkeit der Industrialisierung war der Fremdenverkehr die einzige Entwicklungschance. Sie erforderte jedoch ebenfalls gute Verkehrsverbindungen, weniger auf lokaler Ebene als mit Fernverbindungen, die kompatibel mit den Schienennetzen der anderen europäischen Länder sein mussten.

Die Schweiz hatte es nicht zuletzt mit der Eröffnung der Gotthardbahn 1882 vorgemacht, wie durch geeignete Verkehrsverbindungen der Fremdenverkehr gefördert wurde und damit auch Handel, Gewerbe und Landwirtschaft einen ungeahnten Aufschwung nehmen konnten. In Südtirol, wo inzwischen die Eisenbahnverbindung Bozen-Meran als Normalspurstrecke gebaut worden war, erkannte man sehr wohl, dass zwischen Italien und Tirol ein volkswirtschaftlicher Wettkampf zu den Verbindungen in die Schweiz und nach Deutschland entbrannt war und Österreich sicherte sich mit der 1884 eröffneten Arlbergbahn seinen Anschluss nach Westen.

Wieder war Südtirol – insbesondere der arme und agrarisch bestimmte Vinschgau - von der allgemeinen großräumlichen Entwicklung abgehängt. Erschwerend kam hinzu, dass die Brennerstrecke im Bereich des unteren Eisacktales häufig wegen Muren und Überflutungen gesperrt werden musste und der Export von Waren aus Südtirol sowie der Fremdenverkehr ständig Unterbrechungen erfuhr. Hilflosigkeit machte sich breit und der Begleitbericht zu einem Projekt für die Eisenbahn durch den Vinschgau gibt dies wieder: „Jede Unternehmung ist ausgeschlossen und es wird bei den gegenwärtigen Verhältnissen und bei der herrschenden Entmutigung der Bevölkerung sogar eine Entwertung des Grundbesitzes eintreten...“(Begleitbericht zum Vinschgaubahnprojekt 1891).

Nach dem Verlust der Lombardei und Venetiens musste die k.k. privilegierte Südbahngesellschaft als Rechtsnachfolgerin der hochverschuldeten Staats-Lombardisch-Venetianisch- und Zentral-Italienischen Eisenbahngesellschaft zusehen, dass sie die übernommenen Verpflichtungen zum Bau der Brenner- und Pustertalbahn auch einzulösen vermochte. 1894 setzten sich die Spitzenvertreter von Deutsch- und Welsch-Südtirol zusammen und forderten die Regierung in Wien auf, sich an der Finanzierung einer Bahnlinie durch den Vinschgau über das schweizerische Chur oder den Reschenpass zu den nordwestlichen Handelsplätzen zu beteiligen. Als Perspektive wurde sogar eine Trans-Europa-Strecke von Paris nach Istanbul (Orientexpress) genannt.

Man wusste in Bozen und Trient, dass man sich nicht verzetteln durfte und lehnte deshalb strikt den Bau einer Lokalbahn mit geringerer Spurweite ab um die internationalen Verbindungen nicht gleich von vorneherein unmöglich zu machen. Seit dem Krieg mit Italien war die österreichische Staatsbahn nur noch an den militärischen Aspekten einer Linienführung interessiert. Sie verhielt sich dennoch dem Vinschgerbahnrojekt gegenüber ausweichend.

Um 1895 begann sich jedoch der Schweizerische Eisenbahnpionier und Präsident der Schweizerischen Nordostbahn, Adolf Guyer Zeller, der berühmte Erbauer der Jungfrau-Bahn, für den Gedanken einer „Engadin-Orientbahn“ über den Ofenpass und durch den Vinschgau zu interessieren weil sie ihm als die kürzeste Verbindung zwischen der Schweiz und Triest günstig erschien. Wieder tauchte der Begriff der „Orientbahn“ auf, deren einer Teil die Trasse Chur – Meran sein sollte. Guyer Zeller lud die potentiellen Finanziers und Interessenten im September 1895 zu einer mehrtägigen Promotions- und Studienfahrt auf diese Strecke ein. An ihr nahm auch der später durch seine Bahnbauten berühmt gewordene Techniker Ing. Josef Riehl teil. In Kreisen der Schweizer Bahnpolitik war man sich klar darüber, daß diese Strecke den Schweizer Handelsinteressen in Süd-Ost-Europa sehr zugute kommen würde.

Dagegen erkannte Wien die damit verbundenen eigenen Interessen nicht, ging vielmehr in die Defensive gegen die Schweizer Überlegungen und ließ das international gedachte Großprojekt Guyer Zellers einfach versanden – auch wenn Wiens Eisenbahnminister von Guttenberg im April 1886 bei der Eröffnung der Valsuganabahn das Zustandekommen der Vinschgerbahn ankündigte sobald das erforderliche Einvernehmen zwischen Staat, Land und Stadt (Meran) erzielt werde. Aber eine Engadin-Orient-Bahn passte Wien einfach nicht in das bereits hochverschuldete Eisenbahnnetz, denn für den Bau einer internationalen Normalspurbahnstrecke hätte vom Staat selbst finanziert werden müssen.

Hätte man Guyer Zellers Pläne zusammen mit dem von ihm ebenfalls angestrebten Anschluß an das bayerische Eisenbahnnetz über die vom Münchner Ingenieur Karl Gollwitzer vorgeschlagene Fernpass-Ortler-Bahn verwirklicht, so wäre Südtirol seine Verkehrssorgen los gewesen. Man muß der Regierung in Wien hier ein historisches Versäumnis vorwerfen, daß seine Auswirkungen bis heute hat.

Nach 1900 verschärfte sich die wirtschaftliche Situation für den Vinschgau: Nach der Fertigstellung Tauernbahn und der Albulabahn und den Versuchen Italiens den Anschluß über den Malojapass zu finden geriet die Exportwirtschaft von Wein- und Obst aus Südtirol in die Schweiz als einem der damaligen Hauptabnehmer immer mehr ins Abseits und der Fremdenverkehr konnte sich nur schleppend entwickeln. Deshalb ergriffen die Städte Bozen und Meran zur Selbsthilfe und versuchten neben kommunalen Mitteln auch Kleinkapital über Aktien, die aus dem Kommunalhaushalt vorfinanziert und in Raten abgezahlt werden konnten, erfolgreich zu gewinnen. Auch der Tiroler Landtag stellte Mittel zur Verfügung.

Nun konnte auch Wien nicht hintanstehen und beteiligte sich an einem Projekt für den Teilstreckenausbau zwischen Meran und Schluderns, der schließlich auf Mals ausgedehnt wurde. Die entgültige Trassierung dieser Vinschgaubahn unterstand schließlich auch dem Staat durch das Wiener Lokalbahnamt. Eine staatliche Reinertragsgarantie machte den Aktionären schließlich das als Teilausbau kaum rentable Unternehmen schmackhaft, forderte aber gleichzeitig eine weitaus höhere finanzielle Beteiligung des Landes und der Kommunen. Diese versuchten vergeblich mit Argumenten der militärischen Bedeutung der Bahn, den Staat zu bewegen, die Vinschgaubahn als Staatsbahn zu übernehmen. Schließlich akzeptierte der Landtag doch die Zusammenarbeit zwischen Land, Eisenbahnministerium und den staatlichen Trassierungsabteilungen, die mit dem Bahnprojekt und der Etschregulierung betraut wurden.

Ende des 90er Jahre des 19. Jahrhunderts wurde das Tiroler Anliegen der Vinschgaubahn zudem ein Opfer der nationalistischen Spannungen im Habsburgerreich. Man versuchte diese Spannungen – die ja in Tirol mit seiner strammen deutschnationalen Haltung nicht so existierten – in anderen Teilen des Reiches durch wirtschaftliche Investitionen auch im Bahnbereich zu mildern. So gereichte den Tirolern ihre treue Haltung zur Monarchie eher zum Nachteil indem die knapper werdenden Gelder anderswo eingesetzt wurden.

Wien betrieb vielmehr die finanzielle Einbeziehung der trotz – oder gerade wegen - ihres schlechten Services im Betrieb äußerst rentablen Bozen-Meraner Bahn, deren Aktionäre mit Renditesätzen bis zu zehn Prozent Verzinsung rechnen durften. Nach langen Verhandlungen konnte das Finanzierungsabkommen am 16. Juli 1901 unterzeichnet und die Konzession für die Vinschgaubahn am 7. Juli erteilt werden.

Die 59,825 km lange Vollspurstrecke von Meran nach Mals wurde schließlich nach zweijähriger Bauzeit am 1. Juli 1906 feierlich eröffnet. Der Eisenbahnminister Derschatta sprach dabei von einer „ersten Teilstrecke“ im Hinblick auf eine – möglicherweise aus militärischen Gründen – noch zu bauende Verbindung zur Schweiz oder über den Reschenpaß.

Trotz aller Planungen für die Splügen-Bahn, das Fernpass-Ortlerprojekt und die Mittenwaldbahn und deren möglicher oder wünschenswerter Anschlüsse an die Vinschgaubahn blieb diese durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges ein Fragment. Auch das Kriegsprojekt einer Reschenscheideck-Bahn für das Militär blieb Planung – zu ihm wurde noch das Bauunternehmen des am 17. Februar 1917 verstorbenen Ingenieurs Josef Riehl herangezogen, dessen Trassierungsüberlegungen durch den oberen Vinschgau noch überliefert sind. Zu spät. Die Anfang 1918 angelaufenen Bauarbeiten wurden vom Kriegsende im Herbst des gleichen Jahres überholt – ebenso wie übrigens die im Zweiten Weltkrieg noch Anfang 1945 in Angriff genommenen Arbeiten für die gleiche Strecke. Die Vinschgaubahn blieb bis heute unvollendet.

Dennoch leistete die Strecke vor allem für die Landwirtschaft und den Transport des Laaser Marmor wertvolle Dienste – zunächst mit Dampf- später mit Dieselloks, die auf der Spurweite von 1435 mm insgesamt einen Höhenunterschied zwischen Meran und Mals von 689,30 m zu überwinden hatten. Drei Tunnelbauwerke (Marlinger Tunnel 598 m; Josefsbergtunnel 581,5 m; Tölltunnel 684 m) eine Steinschlaggalerie von 80 m Länge, sechs Brücken (Forster Etschbrücke, 62 m; Plimabrücke bei Latsch, 25 m; Etschbrücke bei Göflan, 127 m; Brücke über die Gadriaschlucht, 25 m; Brücke über das Gadriagerinne, 25 m) und drei Viadukte (am Josefsberg, 46 m; bei Schlanders, 48 m; Kortscher Viadukt, 46 m) waren für die eingleisige Streckenführung erforderlich.

Im Zuge der Reduzierung unwirtschaftlicher Teilstrecken stellten die Italienischen Staatsbahnen FS die Vinschgauerbahn am 2. Juni 1961 ein, der letzte planmäßige Personenzug fuhr ein Jahr vorher, am 9. Juni 1990.

Nach Übernahme der Bahnanlagen durch das Land Südtirol wird nach umfangreichen Renovierungsarbeiten der Strecke die Vinschgauerbahn im Mai 2005 wieder in Betrieb genommen. Die Bahnhöfe wurden vom Land Südtirol den einzelnen Gemeinden zur Nutzung überlassen – sie müssen fast alle grundlegend für eine neue Nutzung saniert werden. Für den Bahnbetrieb sind dabei in den Gebäuden nur geringfügige Nutzflächen (Schalträume, Fahrkartenautomaten, Warteplätze usw.) vorgesehen, diese Räume werden vom Land saniert.

Es wird gemeinsamer Anstrengungen der Kommunen bedürfen um ein übergreifendes Nutzungskonzept so zu entwickeln, daß der Bestand der teilweise sehr schönen Bahnhofsbauten gesichert werden kann. Denkbar wäre der Ausbau der Bahnhöfe zu „Schaufenstern“ der jeweiligen Kommune zur Präsentation örtlicher Produkte zusammen mit Einrichtungen der Tourismus- und Informationsbüros. Verkehrlich könnten die Bahnhofsbauten als Haltestellen für den kommunalen Busverkehr dienen und Anlaufstellen für den touristischen Fahrradverkehr im dafür besonders gut erschlossenen Vinschgau werden nach dem Prinzip „Mit dem Zug bergauf, mit dem Rad zurück“. Ziel muß sein, auch die Touristen auf die Bahn zu locken: Ausflüge in den Vinschgau – beispielsweise von „Schaufenster zu Schaufenster“ mit Degustationen, bei denen auch Alkoholgenuß möglich ist, könnten eine wirkliche Alternative zur stets überfüllten Landstraße sein und alkoholisiertem Autofahren entgegenwirken.

Unter der Leitung Konstantin Ritter von Chabert, Baurat des dem k.k. Eisenbahnministerium in Wien unterstellten Lokalbahnamtes, wurde eine einheitlich wirkende Architektur der Bahnhöfe entwickelt, deren gestalterische Haltung an fröhlich anmutende Landhäuser des Fin de Siècle erinnert. Die damaligen Touristen wurden so bereits bei der Ankunft durch den Eindruck großbürgerlicher Ferienhäuser in Urlaubsstimmung versetzt. Auch heute noch stellen diese kleinen – eigentlich technischen – Bauwerke durch ihren nostalgischen Charme einen hohen architektonischen Anspruch mit ortstypischem Gemütswert dar. Sie sind unbedingt schützenswert und müssen mit sensibler Sorgfalt erhalten bzw. renoviert werden, auch wenn ihnen eine neue Nutzung zugedacht werden sollte. Zur Mitwirkung ist auch die Denkmalpflege gefordert, denn die einzelnen Bauten stehen bislang nicht unter Denkmalschutz sie müssen deshalb bei Umbaumaßnahmen aufmerksam begleitet werden.